Eine Kurzdefinition: Northern Soul ist
schnelle, tanzbare afroamerikanische Soulmusik der 60er Jahre, die in
den 70er Jahren in den Soul-Clubs Nord-Englands beliebt war.
Zur Geschichte dieses Phänomen muß
man jedoch etwas weiter ausholen.
In England war bei den Mods der frühen
bis mittleren 60er Jahre schwarze nordamerikanische Musik sehr beliebt.
In den von Mods frequentieren Club im Londoner Westend und Soho, aber
etwas später auch in Clubs wie dem Twisted Wheel in Manchester
wurde R&B und Soul gespielt. Beliebt waren die Sounds der Label Stax,
Atlantic und Tamla Motown. Mitte der 60er Jahre waren schnelle
tanzbare Nummern gerade aus dem Hause Motown sehr angesagt.
Interpreten wie die Supremes, die Four Tops, die Temptations, Marvin
Gaye, Smokey Robinson oder Martha Reeves waren die Idole der Mods und
auch der ersten Skinheads (deren Stil sich ab Mitte der 60er Jahre
langsam aus den Hard Mods entwickelte). Gegen Ende der 60er Jahre
kamen aber immer weniger Soulplatten, die in diesem typischen Sound
aufgenommen waren, über den Atlantik. In den USA ging der Trend
eben zu Funk und anderem. Gerade in Nord-England ließ aber die
Nachfrage nach schnellen gradlinigen Soul Stücken im mitt-60er
Motown Sound nicht nach. Deswegen fingen viele DJs an, zunächst
in England nach unbekanntem Material in diesem Sound zu suchen und
wurden auch fündig, überall tauchten Singles kleinerer
Labels und unbekannter Interpreten auf, die den Motown-Sound
imitierten oder einfach "reinpaßten". Diese Scheiben
fanden schnell ihren Weg auf die Plattenteller in den Soulclubs. Auch
unbekannte Stücke bekannter Künstler wie Edwin Starr,
Jackie Wilson oder Ray Charles wurden ausgegraben. Viele DJs begannen
nun auch per Post in den USA Schallplatten zu bestellen. Einige von
ihnen, die wohlhabend genug waren, machten sich auf die Reise in die
USA auf, um dort in Plattenläden, Secondhandgeschäften, bei
Plattenlabels und in Lagerhäusern nach brauchbarem Material zu
fahnden. Die Folge war, daß tausende
Jugendliche in Nordengland während der 70er Jahre zu völlig
unbekannten Soul Singles aus den 60er Jahren tanzten, die in den USA
ökonomische Flops waren und selbst vielen amerikanischen
Soulfans unbekannt waren. Dies fand in Clubs wie dem Golden Torch in Stoke-on-Trent, dem Casino in Wigan oder dem Mecca in
Blackpool statt. Aber auch in vielen anderen Clubs im Norden Englands wurde dieser Sound gespielt (z. B. im Va-Va in Bolton, in den Catacombs in Wolverhampton, im Locarno in Birmingham u.v.a.)
Das nächtelange Durchtanzen ist
natürlich sehr anstrengend, deswegen hatte sich schon in den
frühen 60er Jahren in den Soul- und RnB-Clubs Londons das
Einnehmen von aufputschenden Drogen etabliert. Diese Mod-Sitte wurde
von vielen der Northern Soulies weiter betrieben. Auch wenn nicht
jeder Soulfan in Nordengland Amphetamine einwarf, so war es doch bei
der großen Mehrheit weit verbreitet. Dies zog eine verstärkte
Aufmerksamkeit der Behörden und Presse nach sich. Seit Mitte der
60er Jahre wurden Soulclubs in Pressekampagnen als Drogenhöhlen
diffamiert und Polizeirazzien waren bis Ende der 70er Jahre keine
Seltenheit.
Zu Beginn der 70er Jahre etablierte
dann der Musikjournalist und Platttenladenbesitzer Dave Godin den
Begriff "Northern Soul". Er brauchte ein griffiges Wort, um
den Angestellten in seinem Londoner Plattenladen die Sorte Singles
zu beschreiben, die nordenglische Soulies bei ihren Ausflügen in
die Hauptstadt in seinem Laden zu kaufen begehrten: Schneller
tanzbarer afroamerikanischer 60s Soul.
Eine Besonderheit im Unterschied zu
anderen Stilen ist, daß es keine Interpreten gibt, deren
gesamtes Werk als "Northern Soul" bezeichnet werden kann.
Es sind immer nur bestimmte Stücke eines Interpreten, die in den
typischen Northern Soul Stil passen. Die Folge war, daß die
Single, das wichtigste Tonträgerformat für die Northern
Soul Szene war (neben der Tatsache, daß Vinylsingles das
Hauptveröffentlichungsformat für Musik in den 60er Jahren
war). Seit den 70er Jahren wurden dann auch eine Reihe Sampler mit
Soulstücken verschiedener Interpreten veröffentlicht. Bis
auf ganz wenige Ausnahmen gibt es jedoch fast keine LPs von nur einem
Einzelinterpreten, die auf Northern Soul
Wiederveröffentlichungs-Labeln erschienen sind.
In den 70er Jahren entwickelte sich
Northern Soul in England zu einem Massenphänomen, welches auch
eigene Normen kannte. Zum Beispiel war es verpönt,
Nachpressungen in den Clubs zu spielen (es wurden aufgrund der großen
Nachfrage viele Singles "schwarz", aber auch offiziell oder
von Lizenznehmern nachgepreßt). Auch galt es unfein, allzu
bekannte Soulstücke oder aktuelle schwarze Musik (70er Jahre
Soul, Funk, Phillysound) aufzulegen. Auch die Musik weißer
Interpreten, war (obwohl es auch einige gute Tracks von Weißen
wie R. Dean Taylor gab) recht umstritten. Auch das Abspielen anderer
"passender" Sixties-Musik wie z.B. gewisse Beat-Stücke
führte bei einigen Hardcoresoulies zu Naserümpfen.
Dadurch entstanden spätestens ab
Mitte der 70er Jahre rivalisierende Fraktionen in der nordenglischen
Soul-Szene, welche sich um bestimmte Clubs gruppierten. Das Wigan
Casino war zum Beispiel sehr stark auf Sixties Soul abonniert, es
wurde fast nie Phillysound, Funk oder Früh-Disco gespielt.
Trotzdem war man für Soul-Puristen und das rivalisierende
Blackpool Mecca höchst angreifbar, denn im Wigan Casino wurden
gelegentlich Nachpressungen und auch weiße Popstücke wie
das Instrumental "Hawaii 5-0" von den Surfaris aufgelegt.
Das Blackpool Mecca dagegen zog sich den Widerwillen vieler Wigan
Casino Stammgäste zu, da dort Mitte der 70er Jahre zunehmend
Funk, Disco und zeitgenössische Soulmusik gespielt wurde.
Trotzdem gab es natürlich Soulies, die beide Clubs
frequentierten.
Mitte der 70er war Northern Soul eine
so kaufstarke Szene, daß nicht nur (wie schon oben erwähnt)
zahlreiche beliebte Northern Soul Singles wieder nachgepresst wurden,
nein, es wurden sogar einige Stücke neu aufgenommen. Zum Teil
waren das Neuaufnahmen alter Hits wie "Skiing in the Snow"
der englischen Studiogruppe Wigan's Ovation oder maßgeschneiderte
Neukompositionen wie "Footsee" (ein grauenhaftes Stück - ebenfalls von Wigan's
Ovation) oder "Reaching for the Best" von den Exciters.
Auch diese Praxis führte natürlich bei den Puristen für
zunehmendes Nasenkräuseln.
Es hatte sich inzwischen auch ein
typischer Tanzstil entwickelt. Dieser zeichnete sich dadurch aus, daß
er trotz seiner Schnelligkeit gleitend und äußerst
leichtfüßig aussieht. Die wahren Könner sorgten durch
"backdrops" (kurzes nach hinten fallen lassen um dann
sofort wieder aufzuspringen), "Spins" (Mehrfache Drehung
auf der Stelle) und andere waghalsige Einlagen für Aufsehen.
Auch ein (aus heutiger Sicht) etwas
alberner Kleidungsstil entwickelte sich. Waren bis in die frühen
70er Jahre Mohair-Anzüge, Loafers, Brogues, Brutus- und Ben
Sherman-Hemden, Sta-Prest-Hosen recht angesagt, so kleidete man sich
bald in außerordentlich weiten Schlaghosen und
Träger-Unterhemden (gerne mit Soul-Aufnähren versehen).
Zusammen mit den im Norden weit verbreiteten Schnurrbärten und
den modischen langen Haaren ergab dies einen recht merkwürdigen
Look.
Einige DJs wurden sehr bekannt und stilprägend, so daß die Clubs mit ihnen Werbung machten. Genannt seien hier: Russ Winstanley, Kev Roberts (beide Wigan Casino) und Ian Levine (Blackpool Mecca).
Anfang der 80er Jahre schloß mit dem
Wigan Casino der wohl populärste Northern Soul Club und die
Szene erlebte einen allgemeinen Niedergang.
Aber es gab immer noch Clubs, in denen
regelmäßige Northern Soul Veranstaltungen stattfanden.
Selbst in London, welches in den 70er Jahren tiefste Northern Soul
Provinz war, etablierte sich in den 80er Jahren im 100 Club einer der
erfolgreichsten Allnighter.
In den 80er Jahren wurde die Musik auf
den Northern Soul Veranstaltungen etwas vielfältiger. Nicht nur
die üblichen motownähnlichen Aufnahmen wurden gespielt,
sondern auch Modern Soul, RnB, Soul-Balladen und Funk wurden
aufgelegt. Die Pionierarbeit, die das Blackpool Mecca gegen starke
Widerstände in den 70er Jahren geleistet hatte, trug also
Früchte.
In den 80er Jahren wurde auch eines der
wichtigsten Northern Soul Reissue Labels gegründet: Kent
Records. Hier wurde mit Sachkenntnis und in guter Qualität eine
Anzahl wichtiger Northern Soul Sampler veröffentlicht.
Inzwischen hat sich Kent zu einem weltweit wichtigen Label für
afroamerikanische Musik entwickelt: Hier erscheinen inzwischen auch
viele Scheiben mit Deep Soul, RnB und Soulballaden. In den 90er
Jahren trat ein weiteres wichtiges Soullabel in England auf den Plan:
Goldmine Records. Dieses Label ist immer noch (inzwischen in weit
stärkeren Maße als Kent) mit der Northern Soul Szene
verbunden. Allerdings machen einige der dort in großer Zahl
erschienenen Sampler einen etwas lieblosen Eindruck (auch wenn man
immer noch viele "Nuggets" bei Goldmine findet). Durch die
musikalische Ausweitung, die Northern Soul seit den 70er Jahren
erfahren hat, betätigt sich Goldmine auch als Reissue Label in
den Bereichen Funk, R&B und Modern Soul.
In Deutschland wurde Northern Soul vor
allem seit Mitte der 80er Jahre durch die Mod- und die
Scooterist-Szene popularisiert. Auch einige traditionelle Skinheads
wurden hierzulande vom Northern Soul Fieber gepackt und man erinnerte
sich daran, daß die originalen britischen Skins zwischen 1967
und 1971 nicht nur zu Rocksteady und Reggae, sondern auch zu Soul
getanzt hatten. Mit dem Grover-Sublabel V.O.R. und dem Single-Label
Soulfalt werden inzwischen sogar Northern Soul Nachpressungen auf
deutschen Labels veröffentlicht. Es wurden auch viele Normen der
britischen Northern Soul Szene in Deutschland übernommen. Bei
Nightern CDs aufzulegen ist sehr, sehr verpönt und wird
überhaupt nicht gern gesehen. Vinyl ist sowas wie eine
Vorschrift, am höchsten angesehen sind Originalpressungen, aber
man wird auch nicht sofort verhaftet, wenn man Nachpressungssingles
oder Vinylsampler spielt, was jedoch nicht gut fürs Image ist. Außerdem haben viele DJs die Angewohnheit möglichst rare Stücke zu spielen.
Nicht ganz so streng ist man auf den Scooterist Parties, auf denen ja
auch gerne andere Stile wie Ska, Mod-Beat oder Disco aufgelegt werden
(in den frühen 90er Jahren waren bei deutschen Scooterist
Parties und Runs auch House und gelegentlich sogar Schlager beliebt).
Der gleitende leichtfüßige Northern Soul Tanzstil ist auch
ein Muß, obwohl natürlich bei Nightern, die in
innerstädtischen Vergnügungsvierteln stattfinden, die
Laufkundschaft tanzt, wie sie will (was natürlich bei den
Puristen mal wieder für Augenbrauenzucken sorgt).
Inzwischen ist Northern Soul ein
weltweites Phänomen. Obwohl die größte Szene und die
besten Allnighter immer noch ihre Heimat in England haben, gibt es
inzwischen in vielen wohlhabenderen Industriestaaten größere
und kleinere Northern Soul Szenen: USA, Kanada, Schweden, Italien,
Australien etc.
Als Einstiegsempfehlung möchte ich
hier die Doppel-CD "Soul Survivors - 40 Northern Soul Anthems"
(1997, Telstar) und die CD "Once upon a Time in Wigan" (2004,
Kent) angeben.
Bei unseren
Buchkritiken findet Ihr auch Hinweise auf Lesestoff zum Thema.
Hier eine Liste beliebter Northern Soul
Stücke (Ja, ich weiß, die meisten davon sind schon viel zu
oft gespielt worden, meine Herren Puristen. Es geht hier jedoch
darum, Einsteigern zu helfen und außerdem sind diese Stücke
wirklich gut, was man von vielen Neuentdeckungen der letzten Jahre
nicht immer behaupten kann):
Ray Charles: I don't need no
Doctor
Dobie Gray: Out on the Floor
Williams & Watson: Too late
Marlena Shaw: Wade in the Water
Just Brothers: Sliced Tomatoes
Luther Ingram Orchestra: Exus Trek
Melba Moore: Magic Touch
Al Wilson: The Snake
Marsha Gee: Peanut Duck
Frank Wilson: Do I love you (indeed I
do)
Volcanos: False Alarm
Showstoppers: Ain't nothin' but a
House Party
R. Dean Taylor: There's a Ghost in my
House
Earl van Dyke: 6 x 6
Chuck Woods: Seven Days too long
Gloria Jones: Tainted Love
Casualeers: Dance Dance Dance
Edwin Starr: Backstreet
Maxine Brown: It's Torture
Wally Cox: This Man
Thelma Houston: Baby mine
Frankie Beverlie: If that's what you
wanted